Wird Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung Europas gerecht?

„Europäer sind die letzten Vegetarier in der Welt der Fleischfresser“, sagte Ex-Außenminister Sigmar Gabriel bereits Anfang 2020 im ZDF. Trotz ausgerufener Zeitenwende durch den Bundeskanzler, der Eskalation im Nahen Osten und der unklaren Bedrohungslage durch China scheint sich an der über vier Jahre alten Aussage nichts geändert zu haben – oder? Zusammen mit dem Lehrstuhl für Internationale Politik der TU Dresden wollte es der Presseclub letzten Sonntag genau wissen und lud zur Podiumsdiskussion.

Neben den Moderatoren, Club-Co-Vorsitzender Tobias Wolf und TU-Wissenschaftler Dr. Jochen Kleinschmidt, nahm Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) Platz. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses besuchte als eine der ersten westlichen Politiker die überfallene Ukraine. Seitdem treibt sie nicht nur Waffenlieferungsdebatten in den eigenen Koalitionsreihen voran.

Auch wenn sie nicht als „die Stimme der Wirtschaft“ gelten wollte, brachte sie den knapp 160 Zuschauern die ökonomischen Perspektiven näher: Britta Jacob, Senior Manager Global Governmental Affairs des Bayer-Konzerns. Auch der Politikbetrieb ist Jacob nicht fremd, verhandelte sie als Beraterin von Annalena Baerbock etwa den aktuellen Koalitionsvertrag mit. 

Vladimír Handl, Wissenschaftler an der Karlsuniversität Prag, blickt von außen auf die Bundesrepublik: Wird Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung Europas gerecht?

Wer diese Frage stellt, kommt wohl um die leidige Taurus-Diskussion der letzten Monate nicht umher. Ob Kanzler Scholz doch noch die weitreichenden Raketensysteme schickt, deren amerikanische Pendants kürzlich ihren Weg in die Ukraine fanden? „Mein Optimismus hält sich in Grenzen“, sagte Strack-Zimmermann, die bereits einen entsprechenden Antrag der oppositionellen Union öffentlichkeitswirksam unterstützte. In der Frage nach Lieferungen sei auch die tschechische Politik gespalten, berichtete Handl. Trotzdem: „Die Zeitenwende-Rede gilt als Höhepunkt der Sympathien zu Deutschland in Europa.“ Die Länge der Debatten seitdem sei schwer zu ertragen – auch wenn die tschechische Regierung Kritik stets hinter verschlossenen Türen übte. 

Zum Zustand der Bundeswehr wollte sich Strack-Zimmermann nicht auf einen Vergleich mit den 80er Jahren einlassen. Denn neben dem damaligen Bedrohungsszenario des Kalten Krieges sei heute ein entscheidendes Schlachtfeld hinzugekommen: „Der größte Angriff läuft im Internet“, sagte sie. Putin ziele darauf ab, „uns und die Gesellschaft“ mit Desinformationen zu spalten. Der russische Präsident halte „uns eh für Weicheier und wird in unserer Inkonsequenz darin bestätigt.“ 

Unternehmen weltweit würden sich schon länger auf verschiedene Bedrohungslagen vorbereiten – aus Russland und aus China, sagte Britta Jacob. So säßen sie schon heute mit am Politiker-Tisch, wenn es um Künstliche Intelligenz oder Cyber-Sicherheit gehe. „Die Zeiten, in denen sich die Wirtschaft klar von der Politik trennen könnte, sind vorbei.“ Auf dem Podium des Presseclubs plädierte sie für mehr Außenpolitik in jedem Unternehmen. Eine Art Auswärtiges Amt, dass sich um „geopolitische Resilienz“ innerhalb der Großkonzerne kümmert. Etwas, das sie gerade bei Bayer aufbaue. 

Auch die europäischen Staaten hätten ihre Resilienz nach dem Mauerfall runtergefahren, pflichtete Strack-Zimmermann ihr bei. Handl erinnerte an Francis Fukuyamas Buch vom „Ende der Geschichte“, in dem der Politikwissenschaftler die Überlegenheit (westlicher) Demokratien gegenüber anderen Systemen beschreibt und diese Lehre seitdem als gegeben angenommen worden sei. „Wir müssen alle lernen, neu zu denken“, so Handl. 

Strack-Zimmermann betonte, die Bundeswehr stecke in der Entwicklung und Weiterentwicklung vorhandener Pläne als Teil dieses neuen Denkprozesses. Jacob aber reichte das nicht. „Das Problem dieser und der vorherigen Regierung: Dort, wo etwas aufgeschrieben wurde, ist ein Haken dran. Doch ein Papier ist kein Plan, das ist erstmal nur ein Text!“, mahnte sie mit Blick auf die China-Strategie der Bundesregierung.

Der spürbare rote Faden des ohnehin eher harmonischen Podiums: Die Bundesrepublik wird sich ihrer Verantwortung für die Sicherheit Europas immer mehr bewusst. Doch dieser Denk-Prozess „dauert noch einige Jahre“, brachte es Strack-Zimmermann auf den Punkt. 

Text von Erik Töpfer, Videos von Christian Bachmann, Fotos von Norbert Neumann